
Jonathan und Frau Holle – Vorfreude
Alles, was die Welt im Sommer über an Freude und Energie gesammelt hat, ruht im November. November ist der Monat, in dem das Leben neu beginnt. Dazu muss es sich in die Stille zurückziehen.
Jonathan mag den November nicht. Er ist grau, düster. Und langweilig. Im Sommer kann er schwimmen und Fußball spielen. Sogar im Herbst geschieht noch so viel. Erst beginnt die Schule und im Oktober fallen die Blätter. Im November ist einfach nichts. Noch nicht Advent, noch nicht Vorweihnachtszeit. Noch nicht Winter.
Jonathan kickt mit dem Schuh einen Stein weg. “He!” ruft der Stein. “Was soll denn das?” Jonathan läuft zum Stein und kann sein Glück kaum fassen. “Na sowas, ein sprechender Stein. Euch gibt es ja gar nicht!” “Na hör mal, Du Bengel. Zuerst wirfst Du mich durch die Luft und nun beleidigst Du mich. Wenn ich könnte würde ich mich gegen Dich werfen. Unerhört!” Auch die Blattwesen und die Baumgeister schüttelten über Jonathans Verhalten den Kopf. “Wieso denn, wieso? Ist er denn seines Lebens nicht froh? So unachtsam, so rüpelhaft. Einer, der verletzt und dann auch noch darüber lacht.” “Nein, so bin ich doch gar nicht.” “Ach nicht? Er lügt auch noch! Frau Holle, kommt schnell!” Und sie kam und Jonathan erschauderte. Hulda, die Göttin des Todes, welch schreckliche Geschichten hatte er schon über sie gehört! Er fürchtete sich so sehr, dass er kein Wort herausbrachte. Sie sah ihn an, aus ihrem schrecklichen Gesicht, ihren Augen.
Jonathan sah in ihre Augen. Das sind keine schrecklichen Augen, dachte er. Aber dann sog sie ihn ein. Wirbelte ihn durch die Luft. Er hatte sich geirrt. Diese Göttin rächte sich und er würde das nicht überleben. Als er wieder zu sich kam, war er in einem anderen Land. Er war in einer Hütte, die auf Stelzen gebaut war. Doch die Stelzen waren aus Knochen. Jonathan weinte, weil er ganz allein war. Er fürchtete sich. Nicht einmal die alte Göttin war zu sehen. Das Land vor der Hütte musste gepflügt werden. Tiere wollten gefüttert werden. Doch Jonathan wollte nur weinen. Er weinte und weinte und weinte. Irgendwann hatte er auch die letzte Träne heraus gedrückt und merkte, dass er hungrig war. Es gab Hühner, aber niemanden, der ihre Eier einsammelte. Jonathan raffte sich auf, blickte in die Nester und fand ein Ei. Er gab den Hühner zu essen, damit er auch am nächsten Tag wieder Eier haben würde. Dann hackte er Holz, um den Ofen zu befeuern. Ihm wurde klar, dass er von Eiern allein nicht leben wollte. Am nächsten Morgen nahm er Bestand auf: er überlegte, was er anbauen konnte. Welche Tiere er brauchte. Welches Obst er wollte. Und er machte sich an die Arbeit.
Trotz all seiner Mühen war die Ernte spärlich, die Eier wenige. Es reichte eben so zum Überleben. Jonathan verzweifelte. Er war doch so fleißig gewesen. “Ihr blöden Hühner, was wollt ihr denn noch?” “Na, endlich fragst Du mal, Schlaumeier.” Und die Henne sagte ihm genau, was sie wollte. Jonathan tat wie ihm geheißen und am nächsten Tag fand er so viele Eier, dass er sie gar nicht alle essen konnte. “Den Überschuss gib an die Feinen.” Und wieder tat Jonathan, wie ihm geheißen. Von jetzt an teilte er seine Ernte immer, wirklich immer, mit den Feinen. Der Göttin. Egal, ob er viel oder wenig hatte. Und so freute er sich jeden Abend auf den nächsten Tag. Denn gemeinsam würden sie meistern, was auch immer sich ergab.
“Wenn ich damals schon gewusst hätte, was ich heute weiß! Es tut mir leid, sprechender Stein. Wo immer Du auch bist, Du sollst wissen, dass ich aus meinen Fehlern gelernt habe.” An diesem Abend sagte die Henne zu ihm: “Du musst weiterziehen.” Jonathan verabschiedete sich von der Hütte, den Tieren, Bäumen und Pflanzen, der Erde und den Wesenheiten. Dann schnürte er sein Bündel und zog weiter. Er entschied sich der Sonne zu folgen und kam tiefer und immer tiefer in den Wald hinein.
Er hörte Hufe durch den Wald donnern und breschte noch eben rechtzeitig zur Seite, tief ins Gebüsch. Als er dort unter der Hagebutte kauerte, kam der Reiter zurück. Edel und gut gekleidet, von hohem Wuchs und aufrechter Haltung sah sich der Reiter suchend um. Doch Jonathan blieb still. Als der Reiter weg war, wartete Jonathan noch eine lange Zeit. Als er kurz davor war sich aus dem Gebüsch zu befreien, verhakten sich seine Kleider in den Dornen. Anstatt zu toben, verhielt Jonathan sich still.
Da kam der Ritter aus den Schatten. Er sah sich nochmal um und ging dann wieder. Die Hecke ließ Jonathan los und er wusste, dass er nun in Sicherheit war. Er hielt sich abseits der Wege und gelangte alsbald zu einem Fluß. Da saß ein altes Männlein und Jonathan sah, dass es fror. Er bot ihm seinen Mantel an und kochte für sich und das Männlein eine Suppe. Die beiden legten sich nahe am Feuer schlafen und Jonathan deckte sich mit trockenen Blättern zu. Am nächsten Morgen war das Männlein weg. Statt seiner lag ein Klumpen Ton da. Jonathan steckte den Ton in seine Tasche und ging weiter.
Ohne seinen Mantel fror er. Seine Zähne klapperten. Da kam er an den Wagen einer Frau, die am Spinnrad saß. Sie lächelte ihn an, doch etwas an ihr gefiel ihm nicht. Sie versprach ihm einen Mantel, eine warme Suppe. Jonathan holte ihr Feuerholz und als sie sich umdrehte, und das Feuer zu schüren, rannte er so schnell er konnte davon. Im Dickicht sprach ihn eine Ziege an: “Du bist ihr also entkommen, sehr schön. Nun lauf weiter, denn auch ich bin eine Gefahr. Ich muss dich verraten!” Jonathan rannte weiter und konnte von weitem hören, wie das Gemecker der Ziege die Frau zu dem Platz lockte, wo er eben noch gewesen war.
Einsam und halb erfroren bettete er sich in den Wurzeln eines Baumes zur Ruhe. Er war froh über den Schutz, den der Baum ihm spendete. Froh, dass er entkommen und am Leben war. Und voller Vorfreude für den nächsten Tag.
In der Nacht senkte sich ein wärmender Schleier über ihn, und als er am nächsten Morgen erwachte, strahlte die Sonne vom Himmel und wärmte seine Glieder. Nach einem langen Marsch gelangte Jonathan an eine weiß gewaschene Hütte. Sein Hunger trieb ihn dazu, an die Türe zu klopfen. Feuer loderte im Kamin und blendete ihn, als die Türe sich öffnete. So konnte er die Figur nicht erkennen, die da in der Türe stand. Sie bat ihn herein und hieß ihn sich zu setzen.
Als sie die Tür schloss und sich umdrehte, erkannte Jonathan die Frau: Hulda, die Todesgöttin. Auch bekannt als Frau Holle. Doch er fürchtete sich nicht. Nicht mehr. Sie aßen Suppe und sie fragte ihn über seine Reise. “Was hast Du gelernt?” “Dass Ihr nicht böse seid.” Er hatte auch Fleiß und Bescheidenheit gelernt, aber das sagte er nicht. Sie würde es merken.
“Dann kehre nun zurück nach Hause.” Und als Jonathan wieder zu sich kam, sah er vor sich den Stein, den er weggetreten hatte. “Lieber Stein, wo willst Du hin?” Der Stein seufzte zufrieden. Als Jonathan ihn zum gewünschten Platz brachte, meinte er in dem Stein das Männlein aus dem Wald zu erkennen. Zurück zu Hause machte er nun vieles anders. Er half bei der Arbeit. Er sah nichts als selbstverständlich. Und er nahm sich selber nicht so wichtig. Er wusste nun, wie wertvoll er war. Also war es einfach großzügig zu sein.
Der Klumpen Ton hatte sich in ein Stück Gold verwandelt. Von dem Geld baute Jonathan ein Haus, gründete eine Familie und bald wuchs ein Holunderstrauch davor. An jedem Vollmondabend brachte Jonathan eine große Portion Mehl, Milch und Honig zu dem Strauch. Und auch sonst achtete er geflissentlich darauf das zu teilen, was er hatte.
Und so lebten er und seine Familie glücklich und zufrieden bis ans Ende seiner Tage.


MAG. DR. VERENA RADLINGMAYR
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