Der Jahreskreis
Der Jahreskreis
Peters Oma erzählte ihm eine Geschichte. Die beiden saßen an einem nebligen, dunklen Oktoberabend am Feuer und seine Oma begann eine ihrer herrlichen Geschichten zu erzählen. Er liebte es, wenn sie das tat. Auch wenn seine Freunde das nicht wussten, denn die glaubten alle, dass sie für Geschichten schon zu groß seien. Aber Peter wusste es besser. Für Geschichten ist man nie zu groß oder zu alt. Die Indianer und alle Naturvölker, all die Mutigen, die wussten, dass in den Geschichten Wahrheiten steckten. Und je älter und erfahrener man wurde, desto mehr konnte man verstehen. Deswegen freute sich Peter, dass seine Oma ihm nun etwas erzählen würde.
“Wie jedes Kind weiß, geschieht alles im Jahr im Kreis. Doch was ein wenig verloren gegangen ist, sind die Schätze des Wissens und die Festes des Jahres, die diesen Kreis so schön beschreiben. All diese Feste erinnern uns an die zwei Seiten, die das Leben hat. Das Werden und das Vergehen, das Lieben und die Gleichgültigkeit, das Geben und das Nehmen. Eines sieht man, das andere nicht.
Das ist wie auf einer Wippe – einmal bist Du oben, einmal ist Dein Freund oben. Wenn jemand hinter der Hecke steht, dann sieht er immer nur das Kind, das derzeit oben auf der Wippe ist. Aber das andere Kind ist immer da. Und im Jahreskreis ist es ebenso: eines ist sichtbar, das andere nicht. Aber beide sind da.
Und in diesen Festen liegt ein Geschenk, das die Göttin selbst dereinst den Menschen gegeben hat.
Als die Erde noch nicht geboren war, überlegten die Weisen, wie sie Gottes Ratschluss am Besten umsetzen konnten. Doch Gott war ihnen einen Schritt voraus. Er und die Göttin selbst schufen die Erde und hauchten ihr Leben und Liebe ein. Sie schauten auf ihre Schöpfung und waren sehr zufrieden. Die Erde selbst war ein Geschöpf, mit Intelligenz, Emotionen und einem Bewusstsein. Ebenso die Sterne, Tiere und Pflanzen auf ihr. Mutter Erde gebar sich ihre eigenen Kinder und immer mehr Wesen fanden sich ein oder wurden erschaffen.
Dann, eines Tages erschienen die Menschen auf der Erde. Sie waren Gotteskinder und wussten, wie man sich die die Mächte und die Magie zu Nutze macht. Doch um wirklich zu verstehen, was Macht bedeutet, sollten sie erst die andere Seite kennenlernen: die Abwesenheit von Macht, oder die Machtlosigkeit. Daher haben sie die Kinder ihrer Mächte beraubt. Und die Kinder mussten alles, was bisher leicht ging, mit Schweiß erarbeiten: Ackerbau, Hausbau, selbst das Lernen fiel ihnen schwer.
Doch wie alle Mütter, wollte die Göttin ihre Kinder nicht schutzlos lassen. Also gab sie manchen Menschen die Gabe, in die anderen Reiche zu sehen oder Botschaften des Göttlichen zu empfangen. Und diese Menschen ersannen Geschichten. Anderen verlieh sie die Fähigkeit Zauber zu erlernen. Außerdem füllte sie die Erde mit Pflanzen und Tieren und die waren immer mit dem Göttlichen verbunden. Sie wussten alles. Und sie konnten den Menschen helfen sie heilen, oder trösten. Dazu brauchte es nicht mehr als ein offenes Herz und eine gute Gesinnung. So ausgestattet, versteht jeder, die Geheimnisse des Lebens zu entschlüsseln.
Als sie uns das Leben einhauchte, sodass wir unseren ersten Schrei auf Erden tun konnte, da hat sie gesagt: “Fürchte Dich nicht, aber sei wachsam im Geist. Wisse, ob Du oben oder unten bist, wie man jedem dem richtigen Wert beimisst. Dann erfreue Dich und lebe heiter, so kommst Du gut im Leben weiter.”
Peter stürmte zu seiner Oma und umarmte sie fest. “Oma, heißt das, dass wir morgen besonders wachsam sein sollen?” “Ja, das heißt es wohl.” “Ich stelle den Weißdorn ins Fenster und den Weihrauch an den Herd.” Seine Oma nickte wohlwollend. Denn das hatte ihn sein Herz gelehrt. Den Schutz der Pflanzen zu erkennen, stets das Richtige zu benennen und sich und anderen wohl zu tun. Das ließ ihr Herz in Wonne ruhen.


MAG. DR. VERENA RADLINGMAYR
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